Rückblick über 140 Jahre Sozialdemokratie

Veröffentlicht am 11.01.2008 in Historisches

Ehrung im Mai 2003

Rückblick über 140 Jahre Sozialdemokratie – von MdL a.D. Gerd Teßmer (SPD-Kreisvorsitzender 1978 – 2003)

Heute vor fast genau 140 Jahren, am 23. Mai 1863, gründete Ferdinand Lassalle in Leipzig unsere Partei als “Allgemeinen deutschen Arbeiterverein“, der sich dann auf dem Gothaer Kongreß 1875 mit der von August Bebel und Wilhelm Liebknecht 1869 in Eisenach gegründeten „Sozialdemokratischen Arbeiterpartei“ unter dem Namen „Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands“ vereinigte.

Auf dem Parteitag in Halle 1890 gab sich unsere Partei den heutigen Namen „Sozialdemokratische Partei Deutschlands“ (SPD). Das „Erfurter Programm“ von 1891 ging noch von der ökonomisch-gesetzlichen Naturnotwendigkeit des Unterganges der Kleinbetriebe und einem damit einher gehenden Anwachsen des Proletariats sowie einer Monopolisierung der Produktionsmittel aus. Als Konsequenz sah das Programm eine Zuspitzung des „Klassenkampfes zwischen Bourgeoisie und Proletariat, der die moderne Gesellschaft in zwei feindliche Lager trennt“. Als einzigen Ausweg aus diesem verhängnisvollen Prozeß betrachtete das Erfurter Programm die Überführung des kapitalistischen Privateigentums an den Produktionsmitteln in gesellschaftliches Eigentum. Man stellte dabei fest, dass die Arbeiterklasse den Übergang der Produktionsmittel in den Besitz der Gesamtheit nicht bewirken könne, ohne in den Besitz der politischen Macht gekommen zu sein. Dies sollte ‚demokratisch‘, also ohne Revolution erreicht werden.

Ziele der Sozialdemokratie

Wenn man nun die wichtigsten Ziele der SPD der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts verstehen will, muß man eigentlich nur die damaligen politischen Forderungen nachlesen. Alles was man da lesen kann, gab es also noch nicht oder zumindest nicht für jedermann, - und schon gar nicht für jede Frau. Ich will also die damals aufgestellten Ziele näher beleuchten:
• Allgemeines, gleiches, geheimes und direktes Wahlrecht,
• direkte Gesetzgebung durch das Volk,
• Ersetzung des stehenden Heeres durch eine Volkswehr,
• Abschaffung aller Gesetze, die die freie Meinungsäußerung, die Vereinigungs- und die Versammlungsfreiheit einschränken oder unterdrücken,
• die Gleichberechtigung der Frau in öffentlich- und privatrechtlicher Hinsicht (damals ein Novum in der Geschichte der deutschen Parteien),
• Erklärung der Religion zur Privatsache,
• Weltlichkeit der Schulen,
• Unentgeltlichkeit des Unterrichts, der Rechtspflege und des Gesundheitswesens,
• Abschaffung der Todesstrafe,
• Wahl der Richter durch das Volk,
• progressive Einkommens-, Vermögens- und Erbschaftssteuer und
• Abschaffung aller indirekten Steuern und Zölle.
Zum Schutz der Arbeiterklasse wurden die Festsetzung des Achtstunden-Normalarbeitstages, ein Verbot der Kinder- und Nachtarbeit, die Beseitigung der Gesindeordnungen und eine Sicherstellung des Koalitionsrechts gefordert sowie eine reichseinheitliche Anwendung der Arbeiterversicherung mit maßgebender Mitwirkung der Arbeiter an deren Verwaltung postuliert.
Das alles galt nicht nur für die neuen Industrie-Regionen, in denen sich Arbeiter zu Gewerkschaften und SPD-Ortsvereinen zusammengeschlossen hatten, sondern es sollte für ganz Deutschland gelten. Bis es dabei endlich auch in den ländlichen Regionen, die man in Karlsruhe als das „badische Hinterland“ titulierte, zum Durchbruch kam, vollzog sich mit erheblicher zeitlicher Verzögerung. Ich will nun nach dem Rückblick in die gesamtparteilichen Anfänge auf unsere Region im Odenwald und im Bauland eingehen. Hier gab es in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts noch wenig sozialdemokratisches Gedankengut, hier brauchten die „Sozialistengesetze“ kaum durchgesetzt werden, weil fast kein Anhänger da war, der dagegen verstoßen wollte oder konnte. Sozialdemokratie in Odenwald und Bauland erwachte erst gegen Ende der 80er Jahre und nach Aufhebung der Sozialistengesetze.

Erste Anfänge der Sozialdemokraten in der Odenwald-Bauland-Region
In die Öffentlichkeit trat sozialdemokratisches Gedankengut nur in einzelnen Ereignissen. Irgendwann vor 1890 kam es im Neckartal zu einem denkwürdigen Bekenntnis, das ein Mörtelsteiner Steinhauer zur Sozialdemokratie ablegte. Nachdem dieser Steinhauer „Hoch lebe die Sozialdemokratie“ in den Fels des Mörtelsteiner Steinbruchs gemeißelt hatte, verlor er sofort seinen Taglohn und wurde, wie berichtet wird, von der Mosbacher Polizei öffentlich abgeführt und für einige Tage ins dortige Gefängnis eingeliefert.
Aus heutiger Sicht stellt sich dieses Ereignis vielleicht als bloße Kuriosität dar, damals war es aber eine wagemutige, ja gefährliche Bekenntnistat. Es ist heute, wo man bekennen darf Sozialdemokrat zu sein, schwer vorstellbar, was es damals bedeutet hat, als Angehöriger der Unterschicht eine politisch bewußte Haltung einzunehmen. Leider hat die lokale Berichterstattung solche ‚Freveltaten‘ kaum festgehalten, so dass heute nicht einmal mehr der Name des Steinhauers mehr bekannt ist – wohl aber die Inschrift.
Rückblicke über die Geschichte unserer Sozialdemokratischen Partei sollen aber heute nicht in gewonnen Schlachten oder in der Erläuterung irgendwelcher Statuten bestehen, sondern den Alltag von damals ins Blickfeld rücken und darstellen, wie die ‚kleinen Leute‘ hier bei uns leben mußten. Sie machten zwar weniger Geschichte, erlitten sie aber am eigenen Leib.
Erst die Erkenntnis heutiger Geschichtsschreibung und Überlieferung hat erkannt, dass bisher vernachlässigte Fragestellungen aufgegriffen werden müssen. Wir müssen einfach mehr wissen über die politischen Einstellungen und Verhaltensweisen einfacher Leute, wie ihr Verhältnis zu Religion, Kunst, Sprache, Arbeit und Recht war. Erst mit dieser Fragestellung erhält das politische Bekenntnis des Mörtelsteiner Steinhauers historische Bedeutung und regt an zu fragen, wie sich die heutige große Volkspartei SPD in unserem stark konservativ geprägten Raum entwickeln konnte und durfte.
Der Mörtelsteiner Vorfall bezeugt für eine relativ frühe Zeit, dass sozialdemokratische Ideen auch im hinteren Odenwald Einzug gehalten hatten, denn höchstwahrscheinlich ist er in der Zeit vor 1890 zu datieren (lt. Prof. Peter Assion), also in die „Kampfzeit“ der SPD, als noch das Bismarck’sche Gesetz „gegen die genmeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ galt und jede öffentliche Werbung für diese Bewegung unter Strafe stand. Die Maßnahmen, die gegen jenen Steinhauer ergriffen wurden, sind also als Versuch der Obrigkeit zu werten, politische Ideen zu unterdrücken, die sich gegen die herrschende Staats- und Gesellschaftsordnung richteten.
Das 1871 gegründete und 1918 in der Katastrophe untergegangene Deutsche Reich war nicht dasjenige, das die Demokraten von 1848 gewollt hatten, sondern der Staat des Feudaladels und der Industriebarone, und wirtschaftlich und politisch gab eine Minderheit, nicht die arbeitende Mehrheit des Volkes den Ton an. Aus der Arbeiterstadt Mannheim wissen wir, was Arbeit für die Industrie-Arbeiter bedeutete: überlange Arbeitszeiten, Hungerlöhne, dazu den Versuch politischer Entmündigung. In der SPD und den ihr vorausgegangenen Arbeitervereinen, die sich als Gesang- oder Turn- und Sportvereine hatten tarnen müssen, hatten sich seit 1863 die Interessen derer, die auf der Schattenseite des wilhelminischen Reiches standen, organisiert. Klares, mit legalen Mitteln erstrebtes Ziel der SPD war es, eine gerechtere Lebens- und Wirtschaftsordnung durchzusetzen. Die materielle Notlage erwies sich als ebenso stark wie die Begeisterung für Freiheit und Brüderlichkeit, die Idee von einer neuen, einer sozialen Demokratie. Auch die Jahre der Verfolgung bis zur Aufhebung der Sozialistengesetze 1890 schwächten die Sozialdemokraten nicht, sondern schweißten sie zusammen. 1890 verdreifachte sich die Zahl der SPD-Wähler im Reichsgebiet. Bis 1912 wurde die SPD bei fast stetiger Zunahme ihrer Anhängerschaft im Reichstag zahlenmäßig stärkste Partei. Diese Entwicklung ist auch hier bei uns in Odenwald und Bauland mitzuverfolgen, wurde aber dann durch die Nationalsozialisten brutal beendet.

Möglichkeiten sozialdemokratischer Agitation im ländlichen Raum
Die Ausbreitung sozialdemokratischen Gedankenguts hing von den damals bestehenden Kommunikationsmöglichkeiten und von der Wirksamkeit städtischer „Agitationszentren“ ab. Da sich die SPD vorrangig als Arbeiterpartei verstand, war sie vor allem in den industriellen Ballungszentren wie etwa im roten Mannheim beheimatet und warb von dort aus weitere, auch ländliche Anhänger. Unterstützt wurde sie dabei von den Gewerkschaften. Nicht selten gingen gewerkschaftliche Vereinigungen den Parteigründungen voraus. Waren es doch die Gewerkschaften, die eine Politisierung noch unentschlossener Arbeiter durch organisiertes Vorgehen für zunächst sehr naheliegende Ziele wie Lohnsicherheit, Tagesarbeitszeit und Verbesserung der Arbeitsbedingungen erreichten.
Ein folgenschwerer, nie mehr gutzumachender Fehler von damals war der Verzicht, dem Kleinbauerntum die gleiche Unterstützung zu gewähren, wie sie der Arbeiterschaft zuteil wurde. Die Frage, ob man die Kleinbauern in der kapitalistischen Wirtschaft ihrem Los überlassen sollte oder sie nicht in die Parteiarbeit einschließen müßte, war von August Bebel, dem SPD-Vorsitzenden, bejaht worden. 1895 wurde dieses Problem in Breslau dem SPD-Parteitag auch vorgelegt. Es wurde aber zurückgestellt, so dass die Agrarfrage für lange Zeit, nämlich bis zum Kieler Parteitag von 1926 ausgeklammert blieb. Da war es aber für eine Politisierung der Kleinbauern schon zu spät, denn sie wanderten fast geschlossen ins nationale rechte Lager ab. Mit diesem aus heutiger Sicht nicht wiedergutzumachenden Fehler nahm sich die Sozialdemokratie, wahrscheinlich bis heute, auch die Chance, die Landbevölkerung in ihrer bäuerlichen Mehrheit ebenfalls für sozialdemokratische Ziele zu gewinnen. Umso leichter war es dadurch für den gut organisierten mächtigen Widersacher der Sozialdemokratie, seine ländlichen Bastionen gegen diese Bewegung auszubauen und einen bis heute bestehenden politischen Stadt-Land-Gegensatz zu begründen: die katholische Kirche.
Schon immer Freund der Ordnung, dazu schon durch die Säkularisierung der Kirchengüter nach 1803 und durch den Liberalismus und den „Kulturkampf“ in Abwehrstellung gebracht, war es der Kirche nicht möglich, den idealistischen und humanistischen Impuls der Arbeiterbewegung zu erkennen und zu unterstützen. Sie sah nur Aufruhr und den Geist dieser Welt, und der demonstrative Atheismus einzelner Arbeiterführer schien ihr dabei recht zu geben, während der herrschende Materialismus und die Ausbeutung der Unterschicht kaum ins Bewußtsein trat. Da kann auch das durchaus ähnliche Ziele verfolgende Werk Adolf Kolpings nicht als Gegenbeweis gelten.

Unsere Odenwaldregion bietet sich geradezu als Musterbeispiel für die Verhinderung der Ausbreitung sozialdemokratischen Gedankenguts an. Mannheim, die aufstrebende Industriestaat, im Badenerlied stolz als „die Fabrik“ besungen, war wirtschaftlicher und auch politischer Vorort eines weiten Umlandes geworden und damit auch wichtiger Stützpunkt für die SPD. Von hier aus zogen 1891 die ersten beiden Sozialdemokraten August Dreesbach und Dr. Rüdt in den badischen Landtag ein. In der dortigen Arbeiterschaft festigte sich die sozialdemokratische Überzeugung in einer Weise, dass sie auch ins badische Hinterland ausstrahlte.
„Die Arbeiter, besonders die jüngeren, waren von leidenschaftlichem politischen Idealismus erfüllt“ schreibt der aus Hessen gebürtige später lange in Stuttgart wirkende Politiker Wilhelm Keil über die 90er Jahre des 19. Jahrhunderts. Von Keil wissen wir auch, wie er als Holzarbeiter von Mannheim aus weite ‚Agitationsreisen‘ für die SPD unternahm. Ihn und andere SPD-Wahlredner erlebte damals erstmals auch die Odenwald-Region.
Zu dessen bäuerlicher und bürgerlicher Bevölkerung waren inzwischen, wenn auch mit erheblicher zeitlicher Verzögerung gegenüber dem restlichen Baden ebenfalls Arbeiter hinzugekommen. Sie kamen aus der klein- und unterbäuerlichen Schicht und konzentrierten sich in Orten mit kleinen Unternehmen. Während des gründerzeitlichen Bau-Booms waren dabei die Steinbruchbetriebe und die Sägewerke des Odenwalds von besonderer Bedeutung für die SPD. Auf offene Ohren stießen die sozialdemokratischen Ideen auch bei nicht wenigen Handwerksmeistern, deren Existenz durch die industrielle Güterproduktion gerade vernichtet worden war oder unmittelbar bedroht wurde. Politische Informationen nahmen von den Städten aus noch lange Wege bis ins Hinterland, das nun nicht mehr ein abgeschiedenes Eigenleben führen konnte, sondern mehr und mehr dem Industriezeitalter seinen Tribut zu zollen hatte. Dass eine besondere Maßnahme aus Karlsruhe die Ausbreitung der SPD im Hinterland förderte, hatte sich die großherzogliche Regierung kaum träumen lassen. Als 1866 die Bahnlinie Heidelberg-Würzburg fertig war und 1887 die Nebenstrecke Seckach-Walldürn dazukam, entstanden bald kleine sozialdemokratische Stützpunkte überall da, wo Bahnarbeiter und Bahnbedienstete als überzeugte Sozialdemokraten ins Hinterland kamen. Diese neuen Bürger bezogen ihren Lohn nicht mehr von Willkür geprägt aus den Händen von nicht gerade sozial denkenden Unternehmern, sondern hatten feste, wenn auch nicht gerade üppige Staatsgehälter, bei deren Auszahlung zwar auf Wohlverhalten gegenüber dem Staat Wert gelegt wurde, aber bei deren Auszahlung nicht von vornherein politische Parteiarbeit untersagt war oder behindert wurde. Die saisonale Abwanderung ganzer meist männlicher Jahrgänge hatte ebenfalls verstärkt dazu beigetragen, dass bei der winterlichen Rückkehr die "neuen Ideen“ weitergegeben wurden. Dies kann man an den Wahlergebnissen bald nach Inbetriebnahme der Eisenbahnlinie rund um Adelsheim, besonders gut auch in Groß- und Klein-Eicholzheim gut nachlesen. Unser Parteimitglied Klaus Grünewald, selbst Bahnbeamter aus Kleineicholzheim, setzt also diese Tradition der Zeit nach 1890 würdig fort.

Dass das Ansprechen von Personen im ländlichen Raum ein besonders schwieriges Terrain wußte man in den SPD-Parteizentren, die allerdings allesamt in den Ballungsräumen lagen. In der „Anleitung zur Organisation und Agitation für die Sozialdemokratische Partei“ von 1907, herausgegeben vom Landesvorstand der Sozialdemokraten Württembergs lesen wir unter“ Die Organisationen in Landorten“: In Landorten, das heißt da, wo keine nennenswerte Industrie vorhanden ist, sind wir bei der Werbung neuer Mitglieder darauf angewiesen, uns an einzelne Personen zu wenden. Diese werden wir in den Kreisen suchen, die nach ihrer Klassenlage zu uns gehören. An solche Personen sind von Zeit zu Zeit Flugblätter und Aufnahmescheine zu senden, um sie auf diese Weise zum Eintritt in den Ortsverein zu bewegen. Weiter sollen diese Personen zu den Mitgliederversammlungen als Gäste eingeladen werden um sie von der Notwendigkeit ihres Beitritts zu überzeugen. Außerdem soll jeder Genosse in seinem Bekanntenkreis neue Mitglieder werben. Jeder Genosse kann und soll ein Agitator sein.
Weniger häufig dürfte es auch vorgekommen sein, dass Kirchenmänner offen für die Sozialdemokratie eintraten oder warben. Eine löbliches Beispiel, leider nicht aus unserer Region ist der katholische Pfarrer Dr. van den Brink. Er schrieb 1906 in einer ‚Agitationsausgabe‘ „Ein katholischer Pfarrer als Sozialdemokrat“ Folgendes: Ungeregelte Produktion, ungezügelter Kapitalismus, Verteilung der Güter auf Grund eines raffgierigen Wettkampfes, wobei der Starke den wirtschaftlich Schwachen erdrückt -–dies alles erzeugt die Anhäufung von Reichtümern und üppigem Luxus auf der einen Seite, bittere Armut, nagendes Elend und angstvollen harten Kampf ums Brot auf der andere Seite. Diese kapitalistische Gesellschaft treibt Spott mit den Geboten Jesu „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ und „Bruderliebe ist die Erfüllung des Gesetzes“.... Pfarrer van den Brink beruft sich dabei auf die Enzyklika „rerum novarum“ von Leo XIII. und diese verurteilt wohl den Anachronismus und den Kommunismus, aber keineswegs den sozialdemokratischen Gedanken oder das sozialdemokratische System“.

Der Widerstand der katholischen Kirche gegen sozialdemokratische Umtriebe
Dass aber die Aktionen der Kirche bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts gegen alles Sozialdemokratische ausgerichtet waren, ist vielfältig überliefert. So ist das Maurerdorf Hettingen ein besonders nachhaltiges Beispiel dafür. Hettinger Maurerkolonnen, die seinerzeit an Neckar und Rhein Saisonarbeit leisteten und so ihrem rein bäuerlich nicht mehr existenzfähigen Ort einen Ausweg aus der bitteren Not aufzeigten, brachten nicht nur Geld mit nach Hause, sondern aus Mannheim auch „ortsfremdes politisches Gedankengut“. Dagegen trat energisch Ortspfarrer Karl August Sauer (1850 – 1911) auf den Plan. Sauer, aus Höpfingen gebürtig, war der Typ des selbstherrlichen Pfarrherrn, wie er damals noch allenthalben in katholischen Gemeinden anzutreffen war . Er fühlte sich in besonderem Maße dazu berufen, den kirchlichen Widerstand gegen die SPD anzuführen. Was er dazu dachte, hat er 1899 selbst zu Papier gebracht, als er seine Erinnerungen an den „Kulturkampf“ der Jahre nach 1870 in Druck gehen ließ. Für Sauers Autoritätsgläubigkeit war Ordnung im politischen Bereich und Ordnung im Bereich des Glaubens unmittelbar das Gleiche, weshalb er die Kirche offen zu politischer Disziplinierung anhalten konnte: „Es ist unleugbare Thatsache, wenn der Mensch keine Religion mehr im Leibe hat, dann ist er zu allem fähig. Er achtet nicht Eigentum, nicht Ehre, nicht Obrigkeit“, während die Kirche sich gerade bemühe, „Bürger heranzuziehen, welche allseitig ihre Pflicht erfüllen“. Und so dient sich Sauer, der als „Kulturkämpfer“ einst im staatlichen Gefängnis gesessen hatte, der „Obrigkeit“ an.
„Harmonie zwischen Staat und Kirche ist immer, besonders in gegenwärtig bewegter Zeit notwendig. Allenthalben geben sich Grundsätze kund, die auf Untergrabung von Thron und Altar abzielen. Es ist höchste Zeit, dass beide Gewalten einheitlich zusammenwirken“. Zweifellos hat Sauer die „gemeingefährlichen“ Sozialdemokraten im Auge, während sein Idealbild der brave, mehr kritiklose Bürger und Kirchenanhänger war. Und so setzte der Ortspfarrer sein „ganzes Bemühen darein, die Leute von den Städten ab und auf dem Lande zu halten“, wo die Welt noch in Ordnung schien und es in abgeschirmter Idylle auch bleiben sollte.

Über Sauers konkrete Aktionen geben die Protokolle von Ortsbereisungen und Sauers eigene Notizen Auskunft. Gegen die Hettinger Sozialdemokraten machte der Ortspfarrer mit alle ihm zu Gebote stehenden Mitteln mobil. Er erreichte, dass die Betreffenden von der kirchentreuen Mehrheit des Dorfes boykottiert wurden und dass man Gewerkschaftsmitgliedern die notwendigen Lebensmittel verweigerte. Das Hettinger Stimmenpotential führte er bei Wahlen ziemlich geschlossen dem Zentrum zu. Abweichler von dieser Linie wurden von Sauer namentlich in der Pfarrchronik festgehalten. Dafür wurde sogar ein extra „Volksverein für das katholische Deutschland“ gegründet.

In anderen katholischen Gemeinden sah es ähnlich aus. Der katholische Klerus hielt politisch das Heft fest in der Hand. Auf einzelne Sozialdemokraten wurde mit dem Finger gezeigt. Daran konnte sich auch deshalb nichts ändern, weil die Geistlichen zumeist aus bäuerlichen Familien kamen und ihre dort vorgeprägte politische Meinung nahtlos in die Amtskirche einbrachten. Dazu kam ein Großteil aus dem Frankenland selbst, brachten doch die Dekanate Walldürn und Tauberbischofsheim an ihrer Bevölkerungszahl gemessen zwischen 1870 und 1914 die meisten Priester in ganz Baden hervor. Diese Geistlichen kamen dann in ihre Dörfer zurück und der politische Kreislauf war wieder geschlossen.

Was Sauer für Hettingen war, das war sein Amtsbruder Franz Karl Dorbath (1866 – 1946) für Walldürn. Der aus Reicholzheim stammende Geistliche war von 1912 bis 1938 Pfarrer in Walldürn. Noch heute sind seine kämpferischen Rede Geschichtsforschern unseres Raumes bekannt; wetterte er doch gegen das Eindringen städtischer Modeerscheinungen wie fleischfarbene Strümpfe oder Bubikopf-Frisuren, gegen das gemeinsame Baden von Männern und Frauen im Walldürner Schwimmbad und gegen die Einheirat von Evangelischen nach Walldürn. Wenn der erlebt hätte, wer heute Bürgermeister in Walldürn ist!
Seinen Unwillen zogen besonders die Sozialdemokraten auf sich, hatte sich doch die Wallfahrtsstadt Walldürn zu einer Hochburg der Sozialdemokratie im Hinterland entwickelt. Walldürn war nach 1900 nicht mehr die Stadt obrigkeitstreuer Bauern und Bürger, sondern es besaß ein ungewöhnlich großes, politisch mobiles Proletariat armer Tagelöhner, Hausierer und Kleinbauern. – Ein Potential, das neben anderen Gegebenheiten auch früher als anderswo im Odenwald die Ansiedlung von Industriebetrieben zur Folge hatte. Dominierend war die Fabrikation von künstlichen Blumen, die Holzschnitz-Werkstätten (,die die berühmten „Herrgöttli“ schufen), die Steinhauerei und die Holzgewinnung. Über 200 Steinhauer gab es vor dem Ersten Weltkrieg in Walldürn und genau bei diesen hatte die Sozialdemokratie ihren Schwerpunkt. Ein 1920 vom Pfarrherrn gegründeter „Volksverein“ mißbilligte das Verlangen nach von Sozialdemokraten geforderten ‚einschneidenden Veränderungen‘.

Wie die Mörtelsteiner ‚Berufskollegen‘ und die Hettinger Maurer fühlten die Walldürner Arbeiter den Druck der Verhältnisse am empfindlichsten bei Arbeitszeit und Lohn. In den Blumenfabriken war vor 1914 noch der 11-stündige Arbeitstag von 7 Uhr bis 19 Uhr mit einer (unbezahlten) Stunde Mittagspause und zwar täglich außer Sonntag üblich. Arbeiterinnen hatten einen Stundenlohn von 8 Pfennig, Arbeiter von 16 bis 18 Pfennig, allerdings meist als Akkordarbeitslohn. Am schlimmsten sah es in den Steinbrüchen aus. Wegen der Witterung konnte nur im Sommer gearbeitet werden, im Winter waren die Steinhauer arbeitslos – und damit ohne jede Bezahlung. Die Arbeit begann morgens um 5 Uhr für alle, auch für 14-jährige Lehrjungen. Ein frühzeitiger Tod, meist zwischen 30 und 40 Jahren war bei den Steinhauern die Regel. Zurück blieben mittellose, meist kinderreiche Familien ohne Ernährer, die sich kümmerlich mit Heimarbeit und Aushilfe in der Landwirtschaft durchschlagen mußten.

Kirchliche Mitleidsbezeugungen und Vertröstungen auf ein besseres Jenseits konnten angesichts dieser Verhältnisse wenig Gehör finden. Im Gegensatz zu Hettingen war es im größeren Walldürn ( um 1900 etwa 3200 Einwohner groß) nicht gelungen, die SPD wieder aus der Stadt zu drängen. In der größeren Gruppe war es dem Arbeiter hier eher möglich, sich als Wähler und vereinzelt auch als Mitglied der SPD zu bekennen und die Mißachtung der bürgerlich-bäuerlichen Mehrheit, die fast geschlossen Zentrum wählte, auf sich zu nehmen. Eine Mißachtung, die für einen Sozialdemokraten das Schimpfwort „Sozz“ erfand. Arbeiterkinder wurden in der Schule und auf der Straße besonders streng zum „Bravsein“ angehalten. Bei jeder Auffälligkeit hieß es gleich „Hajo, ein Sozze-Kinn“. Zu „Sozzen“ hielt man Distanz, was andererseits das Gruppenbewußtsein der Arbeiter nur stärkte. Es entstand so eine eigene Arbeiterkultur. Vereinsgründungen des bürgerlichen Lagers zogen Gegengründungen der Arbeiterschaft nach sich. Aus dem Fußballbereich wird berichtet, dass man einfach nicht bei den Bürgerlichen sondern dann schon lieber in Altheim, Hainstadt, Hettingen, Höpfingen oder Rippberg mitspielte.

Das Anwachsen der SPD und die Gründung erster Ortsvereine
In Walldürn gab es seit der Zeit nach der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert schon einen SPD-Ortsverein, der seit 1919 aktiv in der Öffentlichkeit auftrat. Mai-Umzüge wurden lautstark vom Kampfruf „Freiheit“ oder genauer „Freiheit welle mer“ begleitet. Trotz dieses wirtschaftlichen und kulturellen Sonderdaseins blieben Walldürns Sozialdemokraten praktizierende Katholiken, so wie sich auch anderorts gläubige Arbeiter gegenüber ihrer Kirche großzügiger zeigten als ihre Kirche ihnen gegenüber. Sie waren immer bemüht, zwischen Glaubensangelegenheiten und politischen Überzeugungen nicht unüberwindliche Gegensätze zu sehen. Bei der SPD wußte man sein Standesinteresse, bei der Kirche die Sorge für das allgemeine Seelenheil am besten aufgehoben. Es wird berichtet, dass die große Mehrheit der katholischen Sozialdemokraten aus der Schmalgasse kamen, eine Tradition, die von unserem Kreisrat Herbert Kilian heute fortgesetzt wird, auch wenn er in der Kirche nicht mehr ganz hinten am Ausgang zu sitzen hat, wie man es damals noch von Sozzen verlangte.

In Walldürns Nachbarschaft war nur noch in Hardheim mit seinen Steinbruchbetrieben eine sozialdemokratische Gruppe von Bedeutung. In der Beamten-, Handwerker- und Bauernstadt Buchen ohne nennenswerte Industrie hatte die SPD nie richtig Fuß fassen können und auch in den evangelischen Orten, wo das Zentrum als Konkurrenzpartei keine Rolle spielte, ging der Trend mehr zu den liberalen, also kapitalistischen Parteien. Nach 1871 rückten die Wähler aber von den Liberalen weg nach rechts. Bei den Reichstagswahlen im Wahlkreis Mosbach-Eberbach läßt sich das deutlich nachvollziehen. Nacheinander gewannen die Nationalliberalen, die Konservativen und dann die Liberalen Reichsparteiler die Mehrheit.

Einen eigenen Weg ging das gemischt konfessionelle, sozial differenzierte Mosbach, das damals etwa 1000 Einwohner mehr hatte als Walldürn. Hier wurde für die SPD ein zweiter Mittelpunkt möglich. Gegenüber dem lange Jahre kurmainzischen Walldürn gehörte Mosbach zur reformierten Kurpfalz. Der altansässige evangelische Bevölkerungsteil gab den Ton an, aber nicht zugunsten der Sozialdemokraten sondern zugunsten der National-Konservativen, die bereit waren, das wilhelminische Reich mitzutragen. Die SPD gewann die selbstbewußte, kirchlich unabhängige Arbeiterschaft für sich, die aus Diamantschleifern, Buchdruckern, Arbeitern aus der Ofenfabrik Nerbel und aus der freiheitlich eingestellten Mosbacher Judenschaft ihre Wählerschaft gewann. Die meist aus dem früher kurmainzischen Odenwald zugewanderten Katholiken bildeten als Kleinbürgertum eine geschlossene, das Zentrum favorisierende Gruppe. Über das damalige Mosbach wird berichtet, dass die katholischen Geistlichen in ihrer Mehrheit der SPD ungleich freundlicher gegenüber standen als andernorts.

Streit gab es allerdings in und um Mosbach dann, wenn die Nationalen Denkmäler errichten wollten, die bei den Sozialdemokraten auf Ablehnung stießen. So kam es nicht zur Errichtung eines Bismarck-Turms in Mosbach, weil man bei den Sozialdemokraten den Erfinder der Sozialistengesetze nicht auch noch zu Ehren kommen lassen wollte. Auch der Versuch, 25 Jahre nach dem deutsch-französischen Krieg (1896) ein Denkmal zur Verherrlichung des Krieges auf dem Marktplatz zu errichten, wurde von der SPD bekämpft aber nicht verhindert. Erst nach 1945 verschwand dieses Siegesdenkmal vom Marktplatz und steht jetzt unbeachtet gegenüber der Polizei. Statt in Mosbach schufen die Sozialdemokraten für den SPD-Mann Friedrich Ebert in Krumbach ein Denkmal, das allerdings 1933 zerstört wurde. Heute gibt es dieses Denkmal wieder und auch in Neckargerach ist das Geburtshaus der Ebert-Mutter eine kleine Gedenktafel wert. In Mosbach die heutige Gewerbeschule in Friedrich-Ebert-Schule zu benennen, ist allerdings trotz mehrheitlicher Zustimmung im Kreistag auch heute noch nicht gelungen.

Die Entwicklung der SPD nach 1918
Zur SPD im Neckar-Odenwald-Kreis selbst ist gesicherte Erkenntnis, dass man den Beginn des SPD-Kreisverbands Mosbach auf 1901 datieren kann. Frühere Gründungen, besonders vor 1890 sind nur schwer festzustellen, weil die Sozialdemokraten sich wie etwa in Obrigheim in ‚Tarnorganisationen‘ wie etwa den Arbeitergesangvereinen treffen mußten. Nach Aufhebung der Sozialistengesetze 1890 wurde es Sozialdemokraten mit vielen Tricks erschwert, Ortsvereine zu gründen und jedes bekennende Mitglied wußte, dass es mit beruflichen und gesellschaftlichen Nachteilen zu rechnen hatte. Trotzdem schreckte das einige nicht ab, die Sozialdemokratie im Mosbacher Raum auch organisatorisch Flagge zeigen zu lassen. 1899 kam Karl Jost, der 1893 in Mannheim SPD-Mitglied geworden war, in seine Heimatstadt Mosbach zurück. Er hatte bei der damaligen Firma Waldbauer (der Vorgängerin der Buchdruckerei Kirschmer) Buchdrucker und Schriftsetzer gelernt. Mit seinen Brüdern Georg und Martin, sowie den Freunden Karl Schmidt, - dem Großvater unseres heutigen Kreis- und Stadtrats Karl-Heinz Schmidt - Fritz Edinger, Wilhelm Knodig, Gottlieb, Heinrich und Jakob Heuss begann er im Jahre 1900 mit dem Aufbau einer Parteiorganisation in Mosbach. Die offizielle Ortsvereinsgründung erfolgte dann 1901, wie wir ja vom Hundertjährigen des SPD-Ortsvereins vor 2 Jahren uns noch gut erinnern können. Langsam aber stetig, mit der erzwungenen Unterbrechung von 1933 bis 1946, wuchsen der örtliche Ortsverein und die Zahl der Mitglieder aus der näheren Umgebung. In der Zeit bis zum 1. Weltkrieg konnte die SPD in den Gemeinden Neckarelz, Obrigheim, Haßmersheim, Neckarzimmern und Mörtelstein eigene Ortsvereine gründen. Schon vor 1914 war die SPD im Mosbacher Stadtrat mit drei Gemeinderäten vertreten. Auch in den Nachbargemeinden wirkten Sozialdemokraten in den örtlichen Gremien mit, mußten sich aber auf allgemeinen Listen wählen lassen.

Nach dem Zusammenbruch der Monarchie waren es auch hier Sozialdemokraten, die mit dazu beitrugen, dass demokratische Verhältnisse eintraten. 1919 konnte Karl Jost Mitglied im Mosbacher Bezirksrat werden. Später wurde auch der sozialdemokratische Bürgermeister von Neckarelz, Johann Jakob Frey, in den Bezirksrat gewählt. Bis 1933 schaffte die SPD im Kreis Mosbach auf 20 Ortsvereine.
Sozialdemokraten gestalteten nun das öffentliche Leben in fast allen größeren Gemeinden mit. Ein gebürtiger Mosbacher, Martin Jost, ein Bruder von Karl Jost, der bereits 1904 den SPD-Ortsverein Eberbach gegründet hatte, wurde 1919 Mitglied der verfassungsgebenden Nationalversammlung des Freistaates Baden.

Im Jahre 1932 veranstaltete die SPD-nahe Organisation „Reichsbanner schwarz-rot-gold“ in Mosbach den letzten großen Aufmarsch unter der Führung von Fritz Lingenberg gegen die NSDAP und die sie unterstützenden Kräfte. An der Seite von Fritz Lingenberg, der Anfang der 20er Jahre den Orts- und Kreisvorsitz übernommen hatte, ist noch der damalige Stadtrat Wilhelm Schwarz zu nennen.

Über das Stimmverhalten zum Ermächtigungsgesetz am 23. März 1933 und über Otto Wels mit seinem klaren Bekenntnis zur Demokratie (Zitat: Leben und Freiheit kann man uns nehmen, die Ehre nicht) haben wir in Schwarzach schon erinnert. Da man nach dem Ermächtigungsgesetz voraussehen konnte, dass es nun massiv gegen die SPD gehen werde, hatte der Parteivorstand die gesamte Organisation angewiesen, alle Unterlagen, Parteibücher und Listen zu vernichten, um die Mitglieder nicht zu gefährden. Wie wichtig und richtig diese Maßnahme war, zeigte sich bei den erfolgenden Hausdurchsuchungen durch die SA. So hatte z.B. der Obrigheimer Schriftführer Fritz Gehrig die Parteifahne auf die Rückseite eines Schrankes genagelt. Entdeckt wurde die Fahne nicht, aber erhalten blieb sie leider auch nicht. Besonders schwer war das Schicksal der jüdischen Mitbürger, von denen viele in der SPD aktiv gewesen waren, wie z.B. Dr. Alfred Mayer aus Mosbach, der Gemeinderat und Bezirksrat war. Dankbar gedenkt die SPD aber auch all der Mitbürger, die damals die verfolgten und bedrängten Sozialdemokraten unterstützten.

Die Entwicklung der Sozialdemokratie nach dem 2. Weltkrieg
Nach 1945 gab es zuerst in den Gemeinden am Neckar wieder Anfänge einer wieder entstehenden SPD. Bei der 1. Bundestagswahl 1949 trat die SPD im Wahlkreis Mosbach-Sinsheim an und holte 10 919 Stimmen gegen über den
24 067 CDU-Stimmen und den 17 555 Stimmen der Notgemeinschaft. In keinem Ort reichte es der SPD dabei zu einer relativen Mehrheit.
Die Zeit vor 1945 und kurz danach bot also in den beiden früheren Kreisen Mosbach und Buchen nicht gerade der Nährboden für sozialdemokratische Parteigründungen. Dies sollte sich dann aber in den späten 60er und frühen 70er Jahren des 20. Jahrhundert ändern, als die Bewegung der Ausschöpfung der Bildungsreserven auf dem Land junge, SPD-freundliche oder SPD-angehörige Lehrkräfte in den Odenwald und ins Bauland verschlug, und linkes Gedankengut mitbrachten und vorlebten. Auch wenn es nicht zum totalen Durchbruch für die SPD reichte, so war die Schaffung der neuen Ganztagesschule in Osterburken auch ein Aufbruch in SPD-freundlichere Zeiten. Hierbei ist an das überlieferte „Gebet“ eines früheren CDU-Landrats zu erinnern, der sich die linken Lehrerinnen und Lehrer aus Osterburken wegwünschte, dann aber selbst nicht mehr gewählt wurde. Dieser SPD-Schub verbindet sich bei mir mit den Namen Andreas Mihan, dem letzten SPD-Kreisvorsitzenden des Altkreises Buchen oder mit Werner Sabelhaus, denen die SPD im Bauland viel verdankt. Zu Andreas Mihan habe ich auch eine nette Anekdote erzählt bekommen. In Biologie soll einer seiner Schüler einmal in einer Arbeit über die Liste der vom Aussterben bedrohten Arten auch den „roten Mihan“ genannt haben.

Erstmals entstand östlich von Mosbach, in Limbach, Ende der 50er Jahre ein SPD-Ortsverein, der mit dem örtlichen Fotograf Otto Kohl eine Leitfigur hatte. Fritz Lingenberg, SPD-Mitglied seit 1909, gab 1963 den Kreisvorsitz, den er nach 1945 wieder übernommen hatte, an den Michelbacher Bürgermeister Kurt Wagner ab. Nun folgte eine beispielhafte Entwicklung, zu der auch im Schefflenztal der Mittelschefflenzer Bürgermeister Oskar Binnig in erheblichem Maße beitrug. Aus bis dahin 9 Ortsvereinen mit 190 Mitgliedern wurden nach und nach 22 Ortsvereine mit knapp 800 Mitgliedern. Ein Hort sozialdemokratischer Kultur und Aktivität wurden dabei das rote Obrigheim mit dem streitbaren SPD-Bürgermeister Ernst Ertl und dem von vielen ‚Schwarzen‘ gefürchteten Eckhard Hoffmann, der mit geschliffener Zunge jede Kungelei und Vetternwirtschaft der Union brandmarkte, und solche Zustände immer mal wieder mit nächtlichen Flugblattaktionen auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen wußte. Das gilt auch für das kleine Michelbach mit für die SPD traumhaften Stimmergebnissen weit über 50 %. Hier wirkten neben Kurt Wagner das rührige Duo Günter Glumb und Walter Kiefer, von denen viele sogar glaubten, dass es Brüder waren, weil sie bis zum viel zu frühen Tod von Günter Glumb immer nur zusammen auftraten.
1964 schaffte Kurt Wagner erstmals für die SPD im Odenwald ein Landtagsmandat, konnte sich aber leider nur eine Legislaturperiode halten. Seine beiden Wiederwahlversuche 1968 und 1972 scheiterten jeweils denkbar knapp an etwa 550 fehlenden Stimmen.

Gleichzeitig entwickelte sich in den 60er Jahren auch im Altkreis Buchen ein stark von Walldürn geprägtes sozialdemokratisches Ortsvereinsleben, das von dem bekannten und durch den Sport als Fußballkreisvorsitzender allgemein auch anerkannten Hermann Gaukel inspiriert und geführt wurde. In Buchen rackerten Adolf Trunk als früherer Bürgermeister von Hettingen und 1. Beigeordneter nach der Gemeindereform, Hans Schaab und der unbequeme, aber bei der Jugend höchst anerkannte Juso-Chef Volker Schwender für die SPD. In Seckach wurde mit Peter Knoche ein SPD-Mitglied Bürgermeister der neuen Gesamtgemeinde Seckach. Unabhängig davon entstand auch rund um das Ganztagesgymnasium Osterburken ein eigenes SPD-Leben, das zunächst von den GTO-Lehrern geprägt wurde. Auf Hermann Gaukel folgte mit Andreas Mihan ein Lehrer aus Osterburken im Amt des Kreisvorsitzenden. Andreas Mihan war denn auch durch den sofort nach der Kreisreform noch 1973 erfolgten Zusammenschluß der beiden SPD-Kreisverbände Buchen und Mosbach zum neuen Kreisverband (Neckar-) Odenwald der letzte SPD-Kreisvorsitzende des Altkreises Buchen. Dabei waren die Sozialdemokraten, die sich überwiegend für Mosbach als Kreissitz eingesetzt hatten, die erste politische Partei im neuen Kreis, die sich überhaupt zusammenschloß.

Die Parteistruktur der letzten Jahrzehnte
Im Bundestag saß ab 1969 bis 1976 dann mit Klaus Richter aus Wertheim wieder ein Mandatsträger der SPD. Auch er kam als Fußballkreis-Vorsitzender im Kreis Tauberbischofsheim zu einem überregionalen Bekanntheitsgrad. 1971, im Jahr der 70-Jahr-Feier der SPD im Kreis Mosbach hielt Bundesminister Erhard Eppler die Festrede und weihte am Marktplatz die erste Kreisgeschäftsstelle der SPD in dieser Region überhaupt ein. Ein Höhepunkt damals war der Besuch des SPD-Vorsitzenden Willy Brand in Dallau, der eine bei der SPD im Kreis nie wieder erreichte Besucherzahl anzog. 25 Jahre blieb die Geschäftsstelle im 3. Stock der Firma Hestermann Anlaufstelle für alle Parteimitglieder zunächst unter Leitung des unvergessenen Geschäftsführers Hugo Pettirsch und seiner Mitarbeiterin Irmgard Kolczynski. Vor knapp 8 Jahren wurde dann in der Kesslergasse das heutige modernere SPD-Partei- und Bürgerbüro mit Büroleiterin Gerda Richter eröffnet.

1972 gab Kurt Wagner das Amt des Kreisvorsitzenden an Eckhard Hoffmann, dem heutigen SPD-Kreisehrenvorsitzenden, ab. 1978 folgte ich ihm in diesem Amt nach und seit dem 29.März steht nun Jürgen Graner an der Parteispitze im Kreis. Zu erwähnen wäre da auch noch der frühere Kreiskassierer Heribert Becker, der 29 Jahre lang, für die SPD die Kreiskassengeschäfte einwandfrei führte.

Heute, 140 Jahre nach der Parteigründung der SPD, hat der Kreisverband Neckar-Odenwald in allen Gemeinden des Kreises mindestens einen Ortsverein, in Buchen und Mosbach darüber hinaus noch einen Stadtverband und über 1300 Mitglieder.
Die heutige SPD-Struktur, das Wählerverhalten im Neckar-Odenwald-Kreis, die Schwierigkeit, neue Mitglieder aus der alteingesessenen Bevölkerung zu gewinnen, ist nur aus den von mir skizzierten Ereignissen, den schwierigen historischen Gegebenheiten und Machtverhältnissen und der eigenen sozialdemokratischen Geschichte zu verstehen. Vielleicht wundert es nach dem Gehörten so manchen nicht mehr, warum und woher christdemokratische Kandidaten im Neckar-Odenwald-Kreis so hohe Mehrheiten einfahren können. Über hundert Jahre Verleumdung, Diffamierung, Ausgestossensein oder gerade noch tolerierte Minderheit werden halt nur sehr langsam und mit höchster Glaubwürdigkeit und persönlichem Einsatz abgebaut, widerlegt und wenn möglich in Zustimmung umgewandelt.
Ich habe versucht, die Wurzeln der SPD in unserem Raum so – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – zu beleuchten, dass die Gründungs- und Aufbauleistung der frühen Sozialdemokraten etwas deutlicher werden sollte, damit wir wissen, in welchen Traditionen, aber auch mit welchen Verpflichtungen wir aus Hochachtung zu den früheren Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten die Zukunft zu gestalten haben.
Immerhin stört es heute keinen mehr und er gefährdet damit auch nicht seine Ausbildung, seine Zukunftsplanung und seine berufliche Existenz, wenn er immer noch mit „Hajo, en Sozz“ tituliert wird.

Vor diesem Hintergrund möchte ich an die heutige SPD und ihre Mandats- und Funktionsträger appellieren und dafür eine Sozialdemokratin zitieren, die wir hier im Kreis kämpferisch, obwohl schon sterbenskrank erleben durften – Regine Hildebrand.
Sie hat uns den folgenden Ausspruch mit auf den Weg gegeben: „Sag mir nicht, warum es nicht geht, sondern wie es geht.

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